Liebe Eltern,
in den letzten Monaten konnte ich an weiterführenden Schulen eine erschreckende Entwicklung beobachten: das Ritzen wird salonfähig.
Ritzen ist eine Form des selbstversletzenden Verhaltens, bei der die Betroffenen sich bewusst Schnitte in die Haut zufügen. In der Regel wird dieses Verhalten mit der so genannten Borderline Persönlichkeitsstörung in Verbindung gebracht, da im Rahmen dieses Krankheitsbilds die Betroffenen versuchen, inneren Druck durch das Einritzen der Haut mit dem Blut abfließen zu lassen.
Leider muss ich in meinem beruflichen Alltag seit einigen Monaten feststellen, dass Ritzen keineswegs mehr auf Borderliner beschränkt ist, sondern sich mittlerweile zum guten Ton der Pubertät zu entwickeln scheint. Es wird geritzt, weil man frustriert ist, Angst hat, überfordert ist, aus Langeweile, um dazu zu gehören und sogar zum gemeinsamen Zeitvertreib. Die dadurch entstehenden Wunden werden wie Trophäen getragen, es wird sich miteinander über Erfahrungen ausgetauscht und anderen geraten, es doch auch einmal zu versuchen – es würde nicht wehtun. Salben, die Entzündungen vermeiden und den Heilungsprozess fördern sollen, sind verpönt. Überspitzt gesagt: Wer cool sein will, trägt Ritznarben.
Letzte Woche war ich mit einer 6. (!) Klasse konfrontiert, bei der von 24 Schülern sagenhafte 12 bereits einmal oder sogar mehrfach geritzt haben. Und dazu benutzt wird vieles. Rasierklingen, Messer und Scheren sind die Seltenheit, aber die Fantasie scheint grenzenlos zu sein und reicht vom Geodreieck über Zirkelspitzen bis hin zu Füllerfedern. Sogar an einer Tischkante schaffen es die Kinder sich in irgendeiner Form eine Ritzwunde zuzufügen – manche sogar während des Unterrichts.
Sicher hat kaum eines dieser Kinder eine Borderline Störung und die meisten probieren sich einmal mit dem Ritzen aus und lassen es dann sein. Es gibt aber auch diejenigen, die dem Ritzen in irgendeiner Form etwas abgewinnen können. Schließlich werden im Körper durch die Selbstverletzung diverse Prozesse ausgelöst, die durchaus eine berauschende Wirkung haben können. Der Körper versucht mit dem Schmerz umzugehen und ihn zu verarbeiten und schüttet deshalb Unmengen Endorphine gegen den Schmerz und Adrenalin als Stresshormon aus. Beides hilft nicht nur den Schmerz zu bewältigen, sondern pusht auf und versetzt in eine euphorische Stimmung. Man kann sich durch das Ritzen also in eine Art Rauschzustand versetzen und damit unangenehme Gefühle zumindest kurzzeitig vergessen. Auf den Adrenalinschub folgt die Erholungsphase des Körpers, so dass man nicht selten tief und fest schläft. Sinkt hingegen der Endorphinspiegel, so kehrt das gekannte Negativgefühl zurück, mitunter stärker als zuvor. Genau diese Kombination ist es, die das Ritzen gefährlich macht und die Kinder in eine Art Abhängigkeit führen kann, aus der sie ohne Hilfe nicht mehr herauskommen.
Glücklicherweise treffen diese weitreichenden Folgen nur auf wenige „Ritzkinder“ zu, allerdings möchte ich Sie bitten, Ihre Sinne zu schärfen und bei Schnitt- und Kratzverletzungen an Armen oder Beinen, die beiden bevorzugten Stellen zum Ritzen, näher nachzufragen und auch mal genauer hinzusehen. Vielleicht ist es tatsächlich ein Kratzer, verursacht durch die Katze der Freundin, es kann aber auch ein Vorbote für das Aufspringen auf diesen neuen, nicht ungefährlichen Trendzug sein.
Viele Grüße
Tanja