Frühförderung
1. Definition von Frühförderung
Frühförderung ist eine Maßnahme aus dem Bereich der Heilpädagogik, die ihre Verankerung im Sozialgesetzbuch XII hat. Ihr Ziel ist es, behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder zu unterstützen und so zu fördern, dass sie im bestmöglichen Umfang am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Dabei arbeitet die Frühförderung als ganzheitliches Konzept, welches motorische, sozio-emotionale, sprachliche und geistige Fähigkeiten und Förderbedarfe vereint. Zentrale Zielgruppe der Frühförderung sind Kinder von der Geburt bis zur Einschulung.
Die offiziellen Definitionen der Frühförderung verkennen leider die elementare Bedeutung dieser Fördermöglichkeit, da sie sich scheinbar ausschließlich an behinderte Kinder oder von Behinderung bedrohte richtet. Für Eltern ist die Frühförderung jedoch eine Möglichkeit, die bei vielerlei Entwicklungsauffälligkeiten zum Einsatz kommen kann – egal ob es sich dabei um kleine oder schwerwiegende Problemlagen handelt und auch ungeachtet deren primären Erscheinungsbilds.
2. Die therapeutische Notwendigkeit
Frühförderung ist eine interdisziplinäre Therapie, die prinzipiell keinem speziellen Bereich an Entwicklungsauffälligkeiten zugeordnet werden kann, sondern vielmehr fachübergreifend agiert. Dabei fließen in die Arbeit der Frühförderung auch Elemente der Logopädie, der Ergotherapie oder der Physiotherapie ein.
Entsprechend lässt sich nicht die Entwicklungsstörung schlechthin definieren, für die Frühförderung zu inszenieren ist. Stattdessen zeigen die betroffenen und in Frühförderung befindlichen Kinder meist in verschiedenen Sektoren Defizite mehr oder weniger ausgeprägter Art, für die genau eine solch interdisziplinäre Maßnahme wie die Frühförderung das geeignete Mittel ist.
2.1 Grobmotorik
In der Grobmotorik eingeschränkte Kinder zeigen häufig einen auffälligen Bewegungsablauf, der bei gezielten Übungen wie Hüpfen, Einbeinstand oder rückwärts Laufen besondere Schwächen aufdeckt. Auch das Gleichgewicht kann beeinträchtigt sein. Diese Defizite im Bewegungsbereich haben oftmals einen Verlust der Bewegungsfreude zur Folge.
2.2 Feinmotorik
Mit fortschreitendem Alter ändert sich bei Kindern die Fingerdifferenzierung. Während die Jüngsten im so genannten Faustgriff zupacken, gewinnt mit zunehmendem Alter der Prinzettengriff zwischen Daumen und Zeigefinger an Bedeutung. Irgendwann sind Kinder in der Lage, ihre Fingerbewegung einzeln und unabhängig voneinander zu steuern – eine Grundvoraussetzung für filigrane Arbeiten. Sind Kinder in der Feinmotorik eingeschränkt, so haben sie genau mit dieser Fingerdifferenzierung Probleme, zeigen keine altersgerechte Greifentwicklung und scheinen sich insgesamt sehr schwer zu tun mit dem Handling kleiner Gegenstände. Fingerspiele bereiten diesen Kindern nur wenig Freude, besonders charakteristisch sind jedoch die unangemessene Kraftdosierung und die Beeinträchtigung beim Auffädeln von Perlen oder beim Sortieren kleiner Gegenstände.
2.3 Graphomotorik
Einen Unterbereich der Feinmotorik stellt die so genannte Graphomotorik dar, die im Konkreten das Zeichenverhalten benennt. Sind Kinder in der Feinmotorik eingeschränkt, so zieht dies in der Regel auch eine Beeinträchtigung der Graphomotorik nach sich. Malen und Zeichnen sind bei diesen Kindern äußerst unbeliebt und weisen meist eine fehlerhafte und verkrampfte Stifthaltung auf.
Altersgerechte Zeichenfähigkeiten fehlen oder sind stark eingeschränkt. Graphomotorische Problemlagen fallen besonders häufig im Rahmen vorschulischer Aktivitäten im letzten Kindergartenjahr sowie bei den Einschulungsuntersuchungen auf und münden dann fast immer in die Frühförderung.
2.4 Wahrnehmung
Wahrnehmung ist ein weitreichender Begriff, der leider auch eine Vielzahl an potenziellen Beeinträchtigungen mit sich bringt. Diese können alle Altersstufen der Zielgruppe der Frühförderung betreffen und müssen natürlich im Kontext des jeweiligen Entwicklungsstandes betrachtet werden. Eltern fallen ihre Kinder zumeist dadurch auf, dass sie Anweisungen nicht folgen, womit leider oftmals die Fehlinterpretation des „nicht Hörens“, also der Ungezogenheit einhergeht.
Die betroffenen Kinder scheinen Schwierigkeiten damit zu haben, Instruktionen zu verstehen und umzusetzen. Vielleicht können sie sich nur schwer konzentrieren oder zeigen Einschränkungen in der sprachlichen oder mathematischen Kompetenz. Auch die fehlende Fähigkeit, mit allen Sinnen gleichermaßen wahrzunehmen, kann eine Indikation für Frühförderung sein.
2.5 Sprache
Leider eine häufige Folge von Beeinträchtigungen im Wahrnehmungsbereich sind Defizite in der sprachlichen Entwicklung, so dass eine verbale Förderung in fast jeder Frühfördersituation stattzufinden hat. Die betroffenen Kinder zeigen je nach Alter Probleme in der Sprachanbahnung, dem Wortschatzaufbau, der Expressivsprache oder dem korrekten Sprachgebrauch. Dies bedeutet, dass erst spät die ersten Worte gesprochen werden, der Wortschatz sehr eingeschränkt scheint oder sich später logopädische Störungsbilder entwickeln. Auch die spontane Sprachverwendung kann beeinträchtigt sein; die Kinder scheinen nicht reden zu wollen.
2.6 Sozio-emotional
Der soziale und emotionale Bereich und dort verankerte Störungsbilder sind mit Abstand das häufigste Einsatzgebiet der Frühförderung. Wenngleich eine Frühförderdiagnostik aufgrund anderweitiger Fragestellungen inszeniert wird, so ergib das Diagnose- und Antragsverfahren fast immer eine zusätzliche Beeinträchtigung im sozialen oder emotionalen Leben und Erleben. Selbstverständlich kann eine dortige Problemlage auch ohne anderweitige Entwicklungsauffälligkeit in eine Frühförderung münden.
Einen entsprechenden Bedarf erkennt man daran, dass die Kinder Auffälligkeiten in ihrem Selbstvertrauen, der Eigenständigkeit, dem Kontakt- und Explorationsverhalten, der Eigeninitiative, der Aktivität, der Motivation, der Regelakzeptanz, der Arbeitshaltung sowie innerhalb der Affekt- und Impulskontrolle aufweisen.
3. Inhalte und Schwerpunkte
Frühförderung ist ähnlich wie die Ergotherapie ein ganzheitliches Therapiekonzept für Kinder, die in einem oder mehreren Entwicklungsbereichen Defizite aufweisen. Entsprechend individuell muss die Frühförderung gestaltet sein, damit jedes Kind seine optimale „Behandlung“ findet. Ehe diese jedoch stattfinden kann, ist ein obligatorisches Prozedere einzuhalten, welches nicht nur dazu dient einen Kostenträger zu finden, sondern vor allem auch die vorherrschenden Entwicklungsverzögerungen zu diagnostizieren und darauf ausgerichtet einen Behandlungsplan zu erstellen.
3.1 Erstberatung
Der erste Kontakt zu einem Frühförderzentrum findet immer im Rahmen einer so genannten Erstberatung statt. Bei dieser handelt es sich um ein unverbindliches Treffen, bei dem sich das Frühförderzentrum vorstellt und die Eltern oder Erziehungsberechtigten berichten können, was zur Kontaktaufnahme bewogen hat und wo die vorrangigen Probleme in der Entwicklung des Kindes zu liegen scheinen. Die Erstberatung findet in der Regel in den Räumlichkeiten des Frühförderzentrums in Abwesenheit des Kindes statt.
3.2 Diagnostik
Hat die Erstberatung einen Verdacht auf einen frühpädagogischen Handlungsbedarf zu Tage gebracht, so wird ein Termin für eine umfangreiche entwicklungspsychologische Diagnostik vereinbart. Diese wird durch eine ausgebildete Fachkraft durchgeführt und bedient sich professioneller Testverfahren, um die Entwicklungsstände des Kindes in den Bereichen Grob-, Fein- und Graphomotorik, Wahrnehmung, Sprache und sozio-emotionales Erleben und Handeln zu erschließen. Das Kind gewinnt dabei nicht den Eindruck, einem Test unterzogen zu werden. Stattdessen bedient sich der Diagnostiker kindgerechter Methoden, was für das Kind einem Spiel gleichkommt. Neben dieser aktiven Diagnostik am und mit dem Kind findet auch die Erschließung von Ressourcen statt. Dies bedeutet zum Beispiel die Kontaktaufnahme des Frühförderzentrums zum Kindergarten, um die Entwicklung des Kindes aus Sicht der betreuenden Erzieherin zu erfahren.
3.3 Medizinische Untersuchung
Obwohl eine umfangreiche und professionelle Diagnostik im Rahmen der Beantragung von Frühförderung bereits aussagekräftig genug ist und Aufschluss über alle vorherrschenden Defizite gibt, kommt man nicht ohne die Beteiligung eines Kinderarztes aus. Dieser muss ein eigenes Statement zur körperlichen und geistigen Entwicklung des Kindes abgeben, damit der Antrag auf Heilpädagogik Aussicht auf Erfolg hat. Allerdings wird hierfür nicht der behandelnde Kinderarzt kontaktiert, sondern ein Kooperationspartner des involvierten Frühförderzentrums, so dass ein möglichst objektives Bild entsteht.
3.4 Förder- und Behandlungsplan
Nachdem die Befunderhebung mittels Erstgespräch, Diagnostik und ärztlicher Beurteilung abgeschlossen ist, folgt die Zusammenfassung der Ergebnisse in einem Bericht, der Förder- und Behandlungsplan heißt und sowohl die vorhandenen Defizite als auch die Notwendigkeit der Frühförderung und deren Ausgestaltung enthält.
Auch ein Vorschlag hinsichtlich der erforderlichen Behandlungseinheiten sowie die Involvierung von Ergotherapie, Logopädie oder Physiotherapie sind integriert. Handelt es sich nicht um einen Erstantrag sondern um die Frage einer Weiterbewilligung, so darf auch ein Bericht der betreuenden Frühpädagogin nicht fehlen. Der abgeschlossene Förder- und Behandlungsplan wird dem Kostenträger zum Entscheid vorgelegt.
3.5 Fachausschuss
Im Rahmen eines Erstantrags auf Frühförderung findet der so genannte Fachausschuss statt, der über den Kostenantrag zu entscheiden hat. Ihm wohnen ein Vertreter des zuständigen Kostenträgers sowie der verantwortliche Diagnostiker teil. Auch die Eltern werden zu dieser Zusammenkunft eingeladen. Inhaltlich wird die Problemlage des Kindes von professioneller Seite vorgebracht und den Eltern die Möglichkeit eingeräumt, die Situation aus ihrer Sicht zu schildern. Eine Entscheidung fällt in der Regel sofort. Dieser Fachausschuss findet einmalig im Rahmen eines Erstantrags statt. Bei Weiterbewilligungen wird nach Aktenlage entschieden.
3.6 Frühförderung
Sind alle bisher genannten Schritte abgeschlossen und der Fachausschuss zu einem positiven Entscheid gelangt, kann die Frühförderung beginnen. Ihre Ausgestaltung ist individueller Natur und wird im Behandlungsplan festgeschrieben. Dieser hat den Eltern schriftlich vorzulegen, sein Inhalt im Rahmen eines Erstgesprächs mit der zuständigen Frühpädagogin Thema zu sein.
Je nach Anzahl bewilligter Behandlungseinheiten finden die Frühförderungen in regelmäßigen Intervallen statt. Ob im Elternhaus, im Kindergarten oder im Frühförderzentrum muss nach der Art der Problemlage entschieden werden. Fakt ist allerdings, dass vorhandene Defizite mit gezielten Spielen angegangen werden. Dabei ist eine engmaschige Beratung und Begleitung der Eltern sowie eine gute Zusammenarbeit mit Kindertageseinrichtungen oberstes Gebot.
4. Chancen und Grenzen
Als ganzheitliche Therapiemaßnahme für Kinder mit multiplen Entwicklungsdefiziten ist Frühförderung sozusagen ein „Allround Talent“ unter den Behandlungsoptionen. Ganz sicher bringt sie auch viele Vorteile mit sich. Allerdings gibt es durchaus Bereiche, in denen die Frühförderung an ihre Grenzen stößt.
4.1 Die Chancen:
- spricht Kinder mit frühkindlichen Entwicklungs- oder Verhaltensdefiziten an
- ist auch anwendbar, wenn ein Kind von solchen Beeinträchtigungen bedroht ist, hat also präventiven Charakter
- ermöglicht es, bereits im frühen Alter Defizite zu erkennen und somit rechtzeitig zu beseitigen oder zu verbessern
- gibt Eltern Hilfestellung, adäquat mit der Situation umzugehen und ihr Kind bestmöglich zu fördern
- ist alltagspraktisch ausgerichtet und somit nah an der Lebenswelt der Familien orientiert
- zeigt große Flexibilität in der Ausgestaltung
- als Komplexleistung mit Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie kombinierbar
4.2 Die Grenzen
- Bewilligung stets nur für ein Jahr mit der Notwendigkeit von Weiterbewilligungsanträgen
- starre Altersbegrenzung – ausschließlich für Kinder von Geburt bis zur Einschulung
- keine adäquate Anschlussbehandlung bei Schuleintritt gegeben
- nicht möglich, wenn Afi in Anspruch genommen wird
5. Kosten und Kostenübernahme
Frühförderung als heilpädagogische Leistung zur Rehabilitation behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder ist gesetzlich geregelt und im Sozialgesetzbuch XII verankert. Damit geht ein Rechtsanspruch auf heilpädagogische Leistungen einher, insofern diese medizinisch begründet werden können. Nichtsdestotrotz obliegt die Ausgestaltung und Kostenübernahme der Frühförderung nach wie vor dem Verantwortungsbereich der einzelnen Bundesländer.
Daraus resultieren unterschiedliche Kostenträger. Insgesamt ist die Kostenübernahme jedoch größtenteils durch die örtlichen oder überörtlichen Träger der Sozialhilfe gesichert. Nähere Auskunft kann das zuständige Sozialministerium erteilen.
6. Zuständigkeit und Ansprechpartner
Wenn bei einem Kind Entwicklungsauffälligkeiten festgestellt werden, ist schnelle Hilfe gefragt. Denn je eher therapeutische Maßnahmen einsetzen, desto größer sind die Erfolgsaussichten und die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben jenseits der Beeinträchtigung. Glücklicherweise finden besorgte Eltern verschiedene Ansprechpartner:
6.1 Kinderarzt
Der erste Ansprechpartner bei bestehendem Verdacht auf eine Entwicklungsstörung sollte der behandelnde Kinderarzt sein. Er kennt das Kind in der Regel bereits von Geburt an und hat im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes mitverfolgt und dokumentiert. Außerdem ist er aus medizinischer Sicht in der Lage, etwaige Auffälligkeiten festzustellen oder zu widerlegen. Ein guter Kinderarzt sollte auch die Adressen von in der Nähe befindlichen Frühfördereinrichtungen vorhalten.
6.2 Frühförderzentren
Der Weg zur Frühförderung kann, muss jedoch nicht zwingend über den Kinderarzt führen. Denn eine wirkliche Diagnose darf ohnehin nur eine entwicklungspsychologische Fachkraft stellen. Aus diesem Grund können Eltern sich an niedergelassene Frühförderzentren wenden, wenn ein Verdacht auf ein vorhandenes Defizit besteht. Im Rahmen der unverbindlichen Erstberatung können bestehende Unsicherheiten und Ängste angesprochen werden. Wird ein Diagnoseverfahren eingeleitet, so übernimmt das Frühförderzentrum alle weiteren Schritte.
6.3 Sozialpädiatrische Zentren
Für die so genannten sozialpädiatrischen Zentren gilt im Grunde das Gleiche wie für die Frühförderzentren. Auch sie können unabhängig und aus Eigeninitiative kontaktiert werden und stellen im Rahmen eines Diagnoseverfahrens einen eventuellen Förderbedarf fest. Allerdings zeigt die Praxis eine gewisse Differenzierung und sieht für sozialpädiatrische Zentren Kinder vor, die aufgrund der Schwere ihrer Beeinträchtigung die Kompetenzen der Frühförderzentren übersteigen.
Aus diesem Grund wird der Kontakt zumeist über den Kinderarzt oder das Frühförderzentrum hergestellt und die sozialpädiatrischen Zentren als ambulante Hilfeleistung an Kinderkliniken angeschlossen. Nichtsdestotrotz sind sie geeignete Ansprechpartner für Eltern, die sich um die Entwicklung ihres Kindes sorgen.