Ergotherapie

1. Ergotherapie: Eine Definition

Den Begriff Ergotherapie hat vermutlich jeder schon einmal gehört. Und doch scheint es immens schwer zu sein, zu erfassen oder gar mit eigenen Worten zu beschreiben, was die Ergotherapie ist und worum es ihr eigentlich geht. Die Wortherkunft stellt dabei sicher nicht das vorrangige Problem dar. Ergotherapie lässt sich ableiten von

 

Ergon = handeln

Therapie = Behandlung

 

 

Ergotherapie

 

Es handelt sich bei der Ergotherapie also um ein medizinisches Verfahren, welches Einschränkungen in der Handlungsfähigkeit aufgreift und diese zu beheben versucht. Damit ist die Ergotherapie ein Mittel zur Begleitung von und Hilfestellung für Menschen, die in ihren Handlungen eingeschränkt sind. Im kindlichen Bereich können diesen Defiziten verschiedene Krankheitsbilder zugrunde liegen.

 

Unterm Strich ist immer dann Ergotherapie angezeigt, wenn deutlich wird, dass „normale“ Aktivitäten nicht, nicht korrekt oder nur eingeschränkt ausgeführt werden können. Damit wird die Ergotherapie zum flexiblen Behandlungskonzept bei zahlreichen frühkindlichen Fragestellungen. In ihrem Zentrum steht die Förderung der Selbständigkeit.

 

 

Ergotherapie-Grafik

 

2. Ergotherapeutische Indikationen

Die Ergotherapie ist eine medizinische Behandlungsweise, die geschlechts- und altersübergreifend zur Anwendung kommen kann. Nichtsdestotrotz haben sich gerade im frühkindlichen Bereich vor allem die Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten als vorrangige Gründe zur Einleitung einer Ergotherapie herauskristallisiert:

 

2.1 Grobmotorik

In der Grobmotorik kommt die Ergotherapie zum Einsatz, wenn eine sichtbare Beeinträchtigung der Bewegungsabläufe zu erkennen ist. Beispiele sind Spastiken, Lähmungen, Krampfanfälle, ein holperiges Gangbild oder eine beeinträchtigte Körperkoordination, die häufig bei sportlicher und körperlicher Leistung zu Tage tritt.

 

2.2 Feinmotorik

Kindern mit Defiziten in der Feinmotorik tun sich mit filigranen Arbeiten, für die das berühmte Fingerspitzengefühl benötigt wird, äußerst schwer. Vorrangig fallen das Schuhe binden, der Pinzettengriff oder der Umgang mit kleinsten Teilchen wie Bügelperlen in diesen Bereich. In der Regel geht damit auch eine Beeinträchtigung der Graphomotorik einher. Resultate sind eine falsche Stiftführung, eine starre Handhaltung beim Schreiben oder Malen, schwerfällige Schwungübungen oder eine nicht altersgerechte Männchenzeichnung.

 

2.3 Sensomotorik und Wahrnehmung

Bei solchen Beeinträchtigungen stehen im Zentrum Probleme, Dinge in ihren Zusammenhängen wahrzunehmen beziehungsweise Wahrgenommenes schließlich auch umzusetzen. Häufig leiden die Kinder außerdem an einer kognitiven Beeinträchtigung – sie erscheinen, ob realistisch oder fälschlicherweise, als wenig intelligent. Autismus, Lernstörungen, ADHS, Konzentrationsdefizite, im späteren Verlauf auch Lese- und Rechtschreibschwäche oder Dyskalkulie seien als die wichtigsten Vertreter genannt.

 

2.4 Sozialverhalten

Im Bereich des Sozialverhaltens als ergotherapeutische Indikation tritt der Verknüpfungspunkt dieses Therapiekonzepts zur Psychiatrie und Psychologie besonders deutlich ans Licht. Im Zentrum der Beeinträchtigung steht prinzipiell die mangelnde Fähigkeit zum sozialen Miteinander. Neurosen, Psychosen, Persönlichkeitsstörungen, Störungen in der Affektkontrolle und Impulssteuerung und fehlende Mechanismen der Selbstregulierung dominieren das Verhalten. Oftmals geht diese Problematik mit einer allgemeinen Verhaltensauffälligkeit einher. Die Kinder entwickeln Ängste, manische oder depressive Züge, Zwänge, fehlende Empathie, neigen zu Selbst- oder Fremdverletzung, übermäßiger Lautstärke und exzessivem und expansivem Verhalten (weinen, schreien, lachen, zappeln). Es fehlt an Gespür für Fremdstimmungen oder Gefahren. ADHS, Autismus, kindliche Depression aber auch schlichte Verhaltensauffälligkeiten, die in verschiedenen Ursachen begründet sein können, dominieren das soziale Leben und erfordern eine ergotherapeutische Behandlung.

 

2.5 Interdisziplinär

Ergotherapie kann auch als Ergänzung einer Primärbehandlung zu deren Unterstützung beziehungsweise als Beitrag zur Genese verordnet werden. Analog zu den im Sozialverhalten begründeten Störungsbildern ist vor allem eine Verknüpfung zur Psychiatrie mit ihren vielfältigen Krankheitsbildern gegeben. Aber auch Onkologie, Orthopädie, Rheumatologie und andere medizinische Fachrichtungen bedienen sich der Ergotherapie als ergänzende Leistungen.

 

3. Inhalte und Schwerpunkte

Die Philosophie der Ergotherapie ist darauf ausgerichtet, Kinder ganzheitlich zu behandeln und sich auf diese und ihre individuellen Einschränkungen auszurichten. Dabei sollen Handlungen des alltäglichen Lebens geübt, verbessert oder wiederhergestellt werden. An der Stelle, wo diese höhere Zielsetzung nicht erreichbar ist, steht das Antrainieren von Verhaltensweisen im Zentrum, mit deren Hilfe sich Defizite weitgehend kompensieren lassen. Gerade die Ergotherapie im frühkindlichen Bereich ist durch die intensive Beratung und Betreuung der Eltern gekennzeichnet. Für die junge Zielgruppe haben sich verschiedene Therapiekonzepte etablieren können:

 

3.1 Kompetenzzentrierte Therapie:

Sie ist die alltagsnahe Ergotherapie, in deren Rahmen gezielte Tätigkeiten und Handlungen trainiert werden. Dabei können handwerkliche Hilfsmittel zum Einsatz kommen.

Beispiel: In der Feinmotorik beeinträchtigte Kinder üben gezielt die korrekte Stifthaltung oder führen alltagsnahe, filigrane Übungen durch, z. B. Schuhe binden, um eben diese Fähigkeiten zu erwerben. Damit ist das Konzept vor allem für Beeinträchtigungen in Grob- und Feinmotorik geeignet. Es findet seinen Einsatz jedoch auch bei sensomotorischen Fragestellungen durch gezielte Übungen im beeinträchtigten Bereich (Konzentrationsspiele, Wortspiele, Rechenübungen…)

Eine besondere Form der kompetenzzentrierten Ergotherapie stellt das so genannte ATL Training dar.

 

3.2 ATL Training

ATL sind die Aktivitäten des täglichen Lebens, deren selbständige Durchführung im Kontext der Gesundheits- und Krankenpflege wie auch der Ergotherapie das höchstmögliche Ziel darstellen. Sie sind im Pflegekonzept nach Juchli verankert und bestehen aus

  • Ruhen und schlafen
  • Sich bewegen
  • Sich waschen und kleiden
  • Essen und trinken
  • Ausscheiden
  • Regulieren der Körpertemperatur
  • Atmen
  • Für Sicherheit sorgen
  • Sich beschäftigen
  • Kommunizieren
  • Sinn finden
  • Sich als Mann oder Frau fühlen

Im frühkindlichen Zusammenhang bedeutet dies, dass mit Kindern, die in ihrer Sozialisation offensichtliche Einschränkungen im ATL Bereich aufweisen, exakt dieser defizitäre Bereich geübt wird. Dies kann das Sauberkeitstraining sein aber auch Essen und Trinken oder das Ankleiden. Auch sich beschäftigen gehört zu den Aktivitäten des täglichen Lebens. Somit wird das ATL Training sozusagen zum Allround Talent der Ergotherapie.

 

3.3 Ausdruckszentrierte Therapie

Sie ist die Darbietung alternativer Formen des Ausdrucks eigener Befindlichkeiten kombiniert mit der Möglichkeit, diese auch bewusst wahrzunehmen und setzt vor allem auf den therapeutischen Effekt kreativer Materialen zum Beispiel Musik oder Kunst. So wird Entspannungsmusik zum „In-sich-hinein-Hören“ inszeniert oder das Malen, als alternative Möglichkeit gute wie schlechte Empfindungen auszudrücken, etabliert. Auch Arbeiten mit Ton kommen als Mittel der angemessenen Kraftdosierung zum Einsatz. Prinzipiell sind der Fantasie bei der Wahl der eingesetzten Mittel im Rahmen der ausdruckszentrierten Therapie keine Grenzen gesetzt. Vor allem die Behandlung von Störungen des Sozialverhaltens, der Sensomotorik und psychiatrische Krankheitsbilder bedienen sich dieser Therapieform.

 

Deren wohl bekannteste Abwandlung ist sicherlich die Gestaltungstherapie: Kinder bringen ihre Gedanken, Wünsche, Ängste, eben alles, was sie bewegt, als Bild zu Papier. Bei der anschließenden Deutung soll der Ergotherapeut durch gezielte Fragen Denkanstöße geben. Im Zentrum stehen die Auseinandersetzung des Kindes mit seinen Problemlagen und die Eröffnung neuer Sichtweisen. Besonders beliebt ist die Gestaltungstherapie bei Ängsten: Das Kind malt diese auf, setzt sich auch wörtlich mit ihnen auseinander und erschließt sich selbst kindliche, aber adäquate Umgangsformen und damit Lösungsmöglichkeiten

 

3.4 Interaktionelle Therapie

Interaktionelle Therapie kann als Gruppentherapie verstanden werden und stellt die ergotherapeutische Arbeit in der Kleingruppe dar. Sie kommt häufig als Ergänzungsmittel der kompetenzzentrierten und der ausdruckszentrierten Vorgehensweisen zum Einsatz. Teilnehmer sollen voneinander lernen und sich gegenseitig helfen. Aber auch gruppendynamische Prozesse im Rahmen sozialer oder psychiatrischer Dispositionen üben Einfluss auf die Genesung aus.

 

3.5 Sensorische Integrationstherapie

Sie ist das häufigste zur Anwendung kommende ergotherapeutische Mittel und kann bei allen Störungsbildern gleichermaßen ihren Einsatz finden. Im Zentrum steht das Setzen gezielter, auf das Krankheitsbild abgestimmter Reize, die einen sensorischen Prozess in Gang bringen, der wiederum ein Portfolio an Alternativverhalten platziert. Im kindlichen Bereich wird überwiegend bei Verhaltensauffälligkeiten und Störungen in Konzentration und Aufmerksamkeit nach dieser Methode gearbeitet.

 

3.6 Hirnleistungstraining

Hirnleistungstraining ist eine ergotherapeutische Methodik, die Beeinträchtigung in der Hirnfunktion aufgreifen und daraus resultierende Störungsbilder abschwächen soll. Bei Kindern kommt dieser Ansatz zumeist bei geistiger Behinderung oder offensichtlichen Schwächen in der kognitiven Leistungsfähigkeit zur Anwendung. Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme oder Schwierigkeiten in der Verarbeitung von Wahrgenommenem, also zum Beispiels das Ausführen von Arbeitsanweisungen, stellen die Indikation für Hirnleistungstraining dar.

 

4. Chancen und Grenzen der Ergotherapie

Ergotherapie ist eine medizinische Maßnahme, die für viele verschiedene Krankheits- und Störungsbilder Relevanz besitzt und dabei große Erfolge in Prävention, Behandlung und Rehabilitation erzielen kann. Deshalb sollten Eltern, die Defizite bei ihrem Kind feststellen können, sich mit den Chancen, die sich dank Ergotherapie eröffnen, auseinandersetzen, sich jedoch gleichzeitig mit den vorherrschenden Grenzen befassen, um keine überzogene Erwartungshaltung zu entwickeln.

 

4.1 Die Chancen

  • Erwerb beziehungsweise Wiedererlangen wichtiger motorischer, kognitiver oder sozialer Fähigkeiten
  • Hilfe beim Erreichen größtmöglicher, lebenspraktischer Selbständigkeit
  • Verzicht auf beziehungsweise Reduzierung von medikamentösen Behandlungen
  • Verbesserung des Behandlungserfolgs inszenierter Primärbehandlungen dank interdisziplinärer Arbeit
  • Steigerung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben

 

4.2 Grenzen

  • Therapieerfolg von Grunderkrankung, Therapieart, Quantität, Qualität und Beginn maßgeblich abhängig
  • Effektivität ist nur in spezialisierten Praxen wirklich gewährleistet
  • manche Therapiekonzepte sind nicht übergreifend anwendbar sondern nur für ausgewählte Störungsbilder relevant
  • vorrangige Abhängigkeit von der Bedarfsfeststellung durch den Kinderarzt

 

5. Kosten und Kostenübernahme

5.1 Gesetzliche Krankenkasse

Ergotherapie ist eine Pflichtleistung der gesetzlichen Krankenkasse und als solche ausschließlich an eine ärztliche Verordnung gebunden. Hierfür stellt der behandelnde Kinderarzt in der Regel ein Rezept aus, welches die Diagnose und die Anzahl ergotherapeutischer Behandlungen enthält. In der Regel wird mit 10 Behandlungseinheiten gestartet, die mit wiederholten Verordnungen gesteigert werden können. Für die ergotherapeutische Behandlung von Kindern fallen bei der GKV keine Zuzahlungen an.

 

5.2 Beihilfe

Nach Bescheinigung der Notwendigkeit von Ergotherapie, die mit der ärztlichen Ausstellung eines Rezepts gegeben ist, werden die anfallenden Kosten als beihilfefähige Auslagen anerkannt und im Rahmen der prozentualen Beihilfeberechtigung übernommen

 

5.3 PKV

Grundsätzlich ist Ergotherapie im Maßnahmekatalog der privaten Krankenversicherungen enthalten. Demzufolge ist prinzipiell eine Kostenübernahme bis zu 100 % möglich. Allerdings ist diese in der Praxis abhängig vom individuell vereinbarten Versicherungsumfang, also dem jeweils geltenden Tarif. Aufgrund des stark präventiven und bedeutsamen Charakters der Ergotherapie, sollte deshalb bei Vertragsabschluss einer PKV zwingend auf die Abdeckung ergotherapeutischer Kosten geachtet werden.

 

5.4 Komplexleistung

Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen nach dem SGB IX sieht Ergotherapie als interdisziplinäre Komplexleistung ergänzend zu heilpädagogischen Maßnahmen vor. Sie kommt je nach Störungsbild in Kombination mit Frühförderung, Logopädie und/oder Physiotherapie zum Einsatz. Der gesamte therapeutische Umfang wird in einem Diagnostikverfahren innerhalb eines Frühförderzentrums festgestellt. Kostenträger ist das bundeslandeigene Sozialministerium beziehungsweise eine ihm nachgeordnete Behörde. Bewilligt wird eine vom Störungsbild abhängige Anzahl an Behandlungseinheiten für einen Zeitraum von einem Jahr unter Festschreibung deren Verteilung auf die einzelnen Behandlungsmethoden. Nach Ablauf des Bewilligungszeitraums ist ein Weiterbewilligungsantrag notwendig.

 

6. Zuständigkeit und Ansprechpartner

Eltern, die ihrem Kind eine ergotherapeutische Behandlung zukommen lassen möchten, finden glücklicherweise zahlreiche Ansprechpartner, die mit Rat und Tat zur Seite stehen können:

 

6.1 Da Ergotherapie in der Regel durch einen Kinder- oder einen Facharzt in ihrem Bedarf festgestellt wird, sind niedergelassene Praxen für Ergotherapie die ersten Ansprechpartner. Dabei ist jedoch auf eine Spezialisierung und Ausstattung für Kinder und das vorliegende Krankheitsbild zu achten.

 

6.2 Auch Krankenhäuser und Rehaeinrichtungen sind eng mit der Ergotherapie verbunden und beschäftigen in der Regel selbst eigene Therapieteams. An sie kann man sich wenden insofern ein entsprechender Bedarf mit einem stationären Aufenthalt in Verbindung steht

 

6.3 Ergotherapie als Komplexleistung ist ausschließlich über ein Frühförderzentrum möglich. Dorthin wendet man sich mit der grundsätzlichen Fragestellung, woraufhin ein Diagnostikverfahren in die Wege geleitet wird. Ergibt dieses einen therapeutischen Bedarf, so werden Antragsverfahren und Therapie im Frühförderzentrum abgewickelt. Sie sind die ersten Ansprechpartner bei multiplen Beeinträchtigungen.